Ein Titel, der vielleicht in die Irre führt, der nahelegen könnte, dass es in diesem Text um den gleichnamigen Film von Stanley Kubrick ginge, der 1972 – also im Jahr vor Eric Kressnigs Geburt – in die Kinos kam und ein genauso brutales wie tragisches Bild einer Gesellschaft zeichnete – einer Gesellschaft, in der Wissenschaft und Kunst im Duett von Beethovens 9. Sinfonie und wissenschaftlichen Versuchen der Gehirnwäsche und »Resozialisierung« einander umkreisen, sich drehen wie die Zeiger einer Uhr, die eine Zeit des Wahnsinns und Schreckens vermisst. Auch wenn es hier nicht um diesen Film gehen soll, scheint die Gesellschaft, die darin porträtiert wird, nur unmerklich gealtert zu sein – ein Blick in die Nachrichten bestätigt den Wahnsinn und Exzess täglich aufs Neue und liefert den Hintergrund, vor dem die Arbeiten von Eric Kressnig neuerlich die Zeit vermessen und unserer Gegenwart eine andere Art von Zeit und eine andere Zeitrechnung entgegenhalten: eine Kunst als Uhrwerk, in dem das Zeitliche und Farbige, das Chronische und Chromatische den Takt angeben und einen anderen Begriff von Zeit einläuten, eine Gegenwart und Gegenwärtigkeit, in der die Gegensätze und Widersprüche nicht ausgelöscht oder ausgeblendet, aber in Balance und Schwebe gehalten werden.
So unterschiedlich seine Arbeiten auch sein mögen – seien es Bilder, Installationen oder Skulpturen, sie interagieren mit dem Raum wie Metronome, die den Takt vorgeben, den Raum strukturieren mit einem visuellen Klick-Klack verschiedener Ordnungen, mit einem Klick-Klack zwischen einer Geometrie des Ereignishaften und einer Farbordnung chromatischer Gewichte. An einem Werk wie »Lontano String« (2022) lässt sich dieses Spiel mit verschiedenen Ordnungen und deren Balance nachvollziehen. Das Bild wird durch neun vertikal angeordnete Bahnen unterschiedlicher Breite und Farbe strukturiert, wobei jede dieser Bahnen nochmal in sich farblich geteilt wird durch die Überlagerung eines schwarzen, geometrischen Lineaments, das die ganze Bildfläche in zwei einander spiegelnde Trapeze und zwei gegenüberliegende Dreiecke unterteilt. Die Einschnitte, die durch den Verlauf des Lineaments entstehen, markieren zugleich Grenzen, an denen die vertikalen Farbbahnen ihre Farbigkeit wechseln. Das führt dazu, dass sich aus dem Wechselspiel zwischen neun vertikalen Bahnen und fünf schwarzen Linien in Summe 22 verschiedene Farbsegmente ergeben, die sich zwar in ihrer Tonalität und Farb- oder Mattigkeit voneinander unterscheiden und dennoch aber einer gemeinsamen Balance und Stimmigkeit Ausdruck verleihen. Vermittelt sich einerseits der Gesamteindruck einer einfach gehaltenen und das ganze Bild erfassenden Struktur, so zeigt sich andererseits ein vielfältiges und in sich differenziertes Spiel aus Verschiebungen und Segmenten. Die geometrischen Ordnungen kippen in eine Geometrie des Ereignishaften, in ein Klick-Klack aus Ruhe und Bewegung, die sich zugleich zu Wort melden und ein so stilles wie lautes Spielen mit Instrumenten der Malerei im Raum vernehmen lassen. Was sich wie ein Bild im Raum zu erkennen gibt, vermittelt sich als konzertante Aufführung verschiedener Farbklänge, als Orchester im Geviert eines Bildobjekts, dessen Ausmaße – wie so oft in den Arbeiten von Eric Kressnig – auf Körpermaße Bezug nehmen, sei es die Höhe (s)eines Körpers mit erhobenen Händen oder die Spannweite ausgestreckter Arme etc. Die Tatsache, dass ein schwarzer Bildrand mit 10 cm Breite das Bild seitlich umläuft, lässt dieses selbst als Bildobjekt und Bildkörper wahrnehmen. Ein Bild, das mehr ist als ein Bild – ein Bildkörper, der im Raum eine Stimmung und zugleich einen Takt und Rhythmus intoniert, ein Klick-Klack, ein Uhrwerk, das eine andere Zeit ins Spiel bringt, eine Zeit, die sich nicht an Minuten und Stunden orientiert und nicht an der Abfolge von Tagen. Die Zeit, die in diesem Uhrwerk von Kressnig vermessen wird, mag für eine Zeit, die sich der Abfolge von Terminen und einer Teleologie von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschrieben hat, unzeitgemäß erscheinen, nicht zeitlos, aber einem anderen Begriff von Zeit verpflichtet. Was hier zum Vorschein kommt, in der Überlagerung unterschiedlicher Ordnungen und Verschiebungen, die zugleich umeinander kreisen und – Klick-Klack – metronomisch ineinander kippen, ist das Paradoxon einer Chronologie des Gleichzeitigen, die sich der Frage entledigt, ob es neu, alt oder modern ist und an deren Stelle eine Gegenwärtigkeit einfordert, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur unterschiedliche Daten, aber keine Hierarchie der Ereignisse oder Bedeutungen zuerkennt. Würde man dies mit Geschichten vergleichen, mit narrativen Strukturen, dann erzählen diese Arbeiten keine Geschichte, die irgendwo beginnt, Ursachen und Folgen auflistet, um dann bei einem Ende oder einer Gegenwart zu landen, sondern eher eine Geschichte, die man immer wieder erzählen kann, an die man sich immer wieder erinnern kann oder erinnern möchte, wie an eine Geschichte, für die es immer wieder einen passenden Anlass, eine passende Gelegenheit gibt, ja die Qualität des Gelegentlichen, des Seltenen, das dann immer stimmt unabhängig vom terminlichen oder kalendarischen Gefüge. Die Gelegenheit entfaltet sich inmitten des Verlaufs vom Vergangenen zum Zukünftigen, dann, wenn es gerade passt, nicht unabhängig von der Gegenwart, aber gegen deren teleologische Ursachen- und Wirkungsmechanismen immun, in einem Moment, der sich chronisch emanzipiert vom Chronologischen.
Diese emanzipatorischen Augenblicke, die Zeit, die in den Arbeiten von Kressnig zum Vorschein kommt, erscheint einer terminlichen Terminologie »fremd« und »entfernt« – wie auch die Bedeutung von »Lontano«, der Titel der Arbeit, nahelegt. Bedeutet das Wort im Italienischen »fremd«, »weit« oder »entfernt«, so steht es zugleich für ein Orchesterwerk, das György Ligeti 1967 komponiert hat, ein Werk, das sich gleichfalls einer Raum- und Zeiterfahrung widmet, die sich gewissermaßen aus der Zeit stiehlt, um den Raum mit einer anderen Zeit zu füllen – mit einem Gefühl, in dem sich das Nahe und Ferne zugleich nähern und nahbar werden, um die je aktuelle Gegenwart zugleich als fremd, entfremdet oder befremdend kennen zu lernen, als Zeit, die sich »entfernt«, um einer anderen Zeit Platz zu machen, einer Gelegenheit, die das Uhrwerk Orange und deren Gesellschaft gelegentlich fern erscheinen lässt, um einer Gegenwärtigkeit Raum und Zeit zu verschaffen: das Paradoxon einer Auszeit in der Zeit, nicht zeitlos und nicht ewig, aber anders, unzeitgemäß als Horizont einer Gelegenheit.
Dieser Ästhetik der Gelegenheit folgen auch die anderen Arbeiten, die dem Titel »Lontano« zugeordnet sind: Die »Lontano Bar«, die »entfernt« an eine Bar »erinnert«, und die »Lontano Wide Area«, die sich »von Weitem« wie ein kreisförmig arrangiertes Ensemble von Tischen vermittelt, scheinen für die Gelegenheit einzustehen, sich mit anderen an die Bar zu stellen oder an einem runden Tisch teilzunehmen. Die farblichen Differenzierungen und Verschiebungen, das Spiel der Geometrie des Ereignishaften und der chromatischen Gewichtungen, kehren hier wieder, in anderer Form und doch verwandt. Auch sie greifen in den Raum ein, spielen mit der Erinnerung an eine Funktionalität, an Bekanntes, das sich dann im Detail aber doch als verschieden ausweist, als Differenz, die das Stehen an der Bar oder an einem Tisch nur mehr als Vorstellung aufruft, entfernt an den Alltag denken lässt und diesen zugleich in die Ferne rückt, um einer anderen Zeit Platz zu machen. Klick-Klack pendelt das Uhrwerk zwischen der entfernten Erinnerung an den Alltag und der visuellen Gegenwärtigkeit und Gelegenheit.
Die Verschiebungen, die sich im Spiel der Farben genauso wiederfinden wie im Spiel mit funktionalistischen Motiven, scheinen in allen Arbeiten einer bestimmten Ordnung zu folgen, einer Geometrie der Entscheidungen. Die Linien werden streng eingehalten, die jeweiligen Segmente je einer Farbe zugeordnet, kein Pinselstrich trübt den Farbton, keine Abweichung erscheint unbedacht oder dem Zufall überlassen. Was in dieser Geometrie der Entscheidungen sichtbar wird, ist ein Denken, das sich einem System verpflichtet, einem Prinzip des Konsequenten. Alles scheint einer Folgerichtigkeit zu folgen und drängt doch auf eine Frage hin, auf die Frage nach dem Warum – oder genauer: auf die Fragwürdigkeit der Frage nach dem Warum, nach der Begründung und einem Grund. Umgeben von einer Kultur des Alltäglichen, in der jede Entscheidung von vielen Gründen abhängig gemacht und mit Blick auf die möglichen Konsequenzen getroffen wird, erscheinen die Ordnungen in den Arbeiten von Kressnig nicht ohne Grund und dennoch nicht zu begründen. Die Frage danach, warum diese oder jene Farbe gewählt wurde, warum ein Streifen diese oder jene Breite hat, lässt sich nicht beantworten und verschiebt die Antwort auf eine andere Ebene, bei der es nicht mehr darum geht, ob sie stimmt oder nicht, sondern ob sie stimmig ist, ob die Farben aufeinander abgestimmt sind und ob der Eindruck entsteht, dass hier konsequent richtig entschieden wurde. DieGründe mögen verschiebbar und variabel sein, sie bleiben kontingent und weisen die Frage nach dem Warum zurück. Im Spiel mit dem Raum, in den sie intervenieren, führen sie eine andere Ordnung ein, eine andere Form von Stimmigkeit, ein Denken, das die Gelegenheit, die unerwartete Möglichkeit, die sich ergibt, ernst nimmt, ja mit der Gelegenheit rechnet und kalkuliert wie mit einer Logik des Zufalls. In diesem Sinne sind die Arbeiten exakt, und zwar exakt anders als ihr Umfeld, mit dem sie in einen Dialog treten und das sie, Klick-Klack, herausfordern, um dem Raum und dem jeweiligen Zeitpunkt eine Gelegenheit zu entlocken – und sei es die Erinnerung daran, dass dieses Hier und Heute auch anders sein könnte. Kressnig hat das Uhrwerk und Metronom dafür bereitgestellt, diese Differenz zu messen.