Eric Kressnig äußert sich in verschiedenen künstlerischen Medien: Malerei, Objekte, Druckgrafik, Installationen und Zeichnungen auf der Wand und auf Papier stehen in seinem Werk gleichwertig nebeneinander. Gleichzeitig überträgt er häufig einen Teil der Gesetze und Darstellungsmittel von einem Medium in ein anderes, um durch die Grenzüberschreitungen zusätzliche Möglichkeiten und Qualitäten auszuloten. Den jeweiligen arbeiten haftet das andere Medium hernach wie ein Adjektiv an: Seine Malerei ist auch architektonisch, die Skulpturen sind auch zeichenhaft und die Wandzeichnungen sind auch malerisch oder typografisch. Um mich seiner Methodik der Bildfindung und Strategie der Abstraktion anzunähern, möchte ich mich im folgenden allerdings exemplarisch auf die Gruppe der Wandzeichnungen konzentrieren.
Nachdem Kressnig 2005 in der Galerie white 8 erstmals direkt auf die wand gezeichnet hatte, entwickelte er im Jahr darauf mit „react view“ in der Galerie splitterart seine auch für spätere wandzeichnungen charakteristischen Bildideen. „react view“ besteht aus zwei Arten sich überlagernder Bleistiftstriche: einem Netz aus feinen, fast flirrenden Linien und darauf stehenden kräftigeren Strichen. Letztere bilden eine gleichförmige Anordnung aus Rechtecken, die in ihrer Gesamtheit die monumentale Form des Buchstabens T darstellen und in ihrem Inneren verschiedene geometrische formen aufweisen. Diese Binnenzeichnungen, die an Grundrisse erinnern und wie kleine Bilder im Bild funktionieren, sind ebenso kräftig gezeichnet wie die sie rahmenden Rechtecke. In der Betrachtung überzeugt die Wandzeichnung durch die Vielfalt in der Gleichförmigkeit und die Ausgewogenheit der verschiedenen ebenen und aufeinander bezogenen Maßstäbe. Die Systematik, die sich hinter dem komplexen Bildaufbau verbirgt, ist unmittelbar spürbar, erschließt sich jedoch vollends erst im Nachvollziehen der Formfindung. Kressnig generiert zunächst ein Liniennetz, indem er den Raum, beispielsweise seine Höhe und Breite, die Abstände zwischen Fenstern oder jene zwischen Decke und Türöffnung, vermisst und mit diesen Proportionen die Abstände zwischen den Linien bestimmt. Das daraus resultierende Netz bildet in der folge dann die Grundlage und das Maß für die Erfindung der Figuren. Diese sind dem Netz quasi immanent, werden aber erst durch das nochmalige Nachzeichnen von Linienabschnitten hervorgehoben und so förmlich aus diesem herausgezeichnet. Aus dem festgelegten, reduzierten Repertoire des Netzes wird dabei eine überraschend große Formenvielfalt erzeugt. Die strikte, selbstgewählte Systematik öffnet sich zu einem Spiel mit Auswahl- und Kombinationsmöglichkeiten.
Der Akt, direkt auf die Wand zu zeichnen, impliziert in den meisten fällen eine intensive Auseinandersetzung mit dem Raum. Neben der Temporalität zählt insbesondere die Ortsbezogenheit zu den wesentlichen Darstellungsmitteln des Mediums Wandzeichnung. Durch die Wahl der wand als Bildträger ist der Raum sowohl als physikalische Größe als auch als spezifische Situation in die Wandzeichnung eingebunden. eine Wandzeichnung wiederum existiert nur in Verbindung mit dem Raum, ist materiell kaum davon zu lösen und wird meistens im Verbund mit diesem wahrgenommen. Wie also gestaltet Kressnig diesen Dialog? Um die Präsenz des Raumes und seine Funktion in den Wandzeichnungen genauer zu beleuchten, erweist sich der Begriff der Matrix als hilfreich. Dieser wird vielfach verwendet, um auf eine Anordnung in Form einer Tabelle zu verweisen. aus dem Griechischen kommend bedeutet er wörtlich „Stamm, Muttertier“, im übertragenen Sinn auch „Grund, Ursache“. Die Matrix unterscheidet sich somit wesentlich vom Raster, das auf das lateinische rastrum, „rechen, Hacken“ zurückgeht und ein Liniengitter bezeichnet, das als standardisieren- des oder ästhetisches Ordnungssystem über etwas gelegt wird. Das Raster bzw. Gitter spielt als Motiv in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts von Piet Mondrian über Agnes Martin bis hin zu Sol Lewitt eine bedeutende rolle:
„Auf der räumlichen ebene proklamiert das Raster die Autonomie der Kunst. flach, geometrisch, geordnet, ist es anti-natürlich, anti-mimetisch, anti-real. So sieht Kunst aus, wenn sie der Natur den rücken kehrt. Mit seiner durch die Koordinaten bedingten Flächigkeit verdrängt das Raster die Dimensionen des realen und ersetzt sie durch die seitliche Ausbreitung einer einzigen Fläche. In seiner durchgängig regelmäßigen Organisation ist es nicht das Ergebnis von Nachahmung, sondern ästhetischen Dekretierens. Insofern seine Ordnung die reiner Beziehungen ist, spricht das Raster natürlichen Gegenständen den Anspruch auf eine eigene Ordnung ab. Das Raster zeigt, daß die Beziehungen im ästhetischen Feld in einer separaten Welt existieren und daß diese Beziehungen in bezug auf die natürlichen Gegenstände sowohl vorgängig als auch endgültig sind.“ 1
Es ist eben diese Aufkündigung der außerbildlichen Gegenständlichkeit, die Kressnig in seinen Wandzeichnungen zurücknimmt, wenn er den Raum zur Matrix seiner Wandzeichnungen macht und von den spezifischen Gegebenheiten ausgeht, um sein Liniennetz zu entwickeln. Trägt er einerseits keine existierende Struktur in den Raum hinein, so sind seine Vermessungen des Raumes andererseits auch kein numerisches Resultat, das wie etwa die Wandzeichnungen von Mel Bochner aus den späten 1960er-Jahren darauf abzielt faktische Realitäten zu unterstreichen oder zu verdoppeln. Vielmehr verwendet er die vor Ort gefundenen Proportionen als Ausgangslage für neue, zahlreich variierte Bildfiguren.
Einschiebend möchte ich anmerken, dass der Raum sich auch noch auf einer anderen ebene als Matrix der Wandzeichnungen verstehen lässt, denn als haptische Oberfläche beeinflusst die Wand in ihrer Materialität unmittelbar die Strichqualitäten. Ihre Unebenheiten und Risse zeichnen sich in den Linien ab und verändern deren Kontinuität und Farbdichte. Über die Wand als Zeichengrund wird der Raum also in doppelter Hinsicht zur Grundlage des Werkes.
Die Figuren, die Kressnig aus dem Liniennetz entwickelt, lassen sich isoliert durchaus als autonome Figuren lesen, gleichzeitig wird die Verbindung zum ursprünglichen Bezugspunkt, zur Matrix des Raumes jedoch nie aufgegeben, bleibt das Liniennetz doch stets sichtbar. Diese doppelte Lesbarkeit erzeugt eine art Kippmoment. Die Wandzeichnungen verbinden die außerbildliche Gegenständlichkeit des Raumes mit einer gewissen Selbstreferenzialität der daraus entwickelten Figuren, sie nehmen ihren Anfang in dem einen, um auf das andere hinzuarbeiten. Die Bewegung von der außerbildlichen Gegenständlichkeit zur Selbstreferenzialität, die nichts Geringeres als den Prozess der Abstraktion in seinem buchstäblichen Sinne von „Von-etwas-abziehen“ darstellt, wird von Kressnig durch die Übertragung der Motive in andere Medien weiter und teilweise bis zum Endpunkt getrieben. Die Radierung „react view – Raster“ beispielsweise zeigt einen ausschnitt aus dem Liniennetz der gleichnamigen Wandzeichnung. Der Titel verweist präzise auf die nunmehr abgeschnittene Verbindung. Durch die Übertragung auf den transportablen Bildträger Papier fehlt dem Liniennetz seine ursprüngliche Grundlage, der Bezug zur Realität des Raumes. Es erscheint als autonomes Raster.
Vor diesem Hintergrund ist die frage naheliegend, was mit den Wandzeichnungen geschieht, wenn ihnen der Raum abhanden kommt. anders gefragt: Sind die Wandzeichnungen Kressnigs auf andere Räume übertragbar? Diese frage mag auf den ersten Blick widersinnig erscheinen, gilt doch gerade die Ortsbezogenheit – wie schon oben behauptet – als eine der medialen Essenzen der Wandzeichnung. Ein Gegenbeispiel aus der jüngeren Kunstgeschichte, das eben diese Paradoxie auslotet, sind die Wandzeichnungen Sol LeWitts.2 LeWitt trennte die Konzeption bzw. Idee einer Arbeit von ihrer materiellen Ausführung. während seine sprachlich gefassten Konzepte unabhängig von den örtlichen Gegebenheiten sind, verdanken die jeweiligen Ausführungen ihren Charakter eben jener Spezifik. LeWitts Wandzeichnungen passen sich durch die Abstraktion in den Formulierungen jedem realen Wandformat an und sind dadurch jederzeit auch an anderen orten wiederholbar. Kressnig’s Antwort auf die gesuchte Herausforderung, seine Setzung der Konstanten und Variablen, ist eine andere: Bei der 2010 für die Firma Rutter Retail entstandenen Wandzeichnung löst er die Figuren aus ihrer räumlichen Verbindung, indem er stattdessen den Firmennamen des Auftragsgebers als Bezugsrahmen wählt. Die horizontalen und vertikalen Linienabstände der ersten ebene des Netzes werden systematisch von den einzelnen Buchstaben abgeleitet, wobei der Abstand um so vieles größer ist, je weiter hinten im Alphabet der jeweilige Buchstabe steht. Die bildimmanente Relation zwischen dem Liniennetz und den Bildfiguren wird dadurch fest definiert, während ihre Beziehung zu den räumlichen Gegebenheiten offen bleibt, beziehungsweise wie bei der Hängung eines Gemäldes (immer wieder neu) vor Ort erfolgt. Was bleibt sind das Spiel und die Dynamik der Formfindung auf der Grundlage einer Systematik, die einerseits willkürlichen Regeln folgt, andererseits doch einen nachvollziehbaren Ursprung hat. Dass Kressnig seine Bildfindungen verankert und sich dabei mit den Raumproportionen oder der Typografie eines Namens auf außerbildliche Gegenständlichkeiten und Artefakte bezieht, die bereits einen hohen Abstraktionsgrad besitzen, macht zu einem großen Teil die Spannung seiner Arbeiten aus.
1 Rosalind e. Krauss, „raster“ (1979), in: Dies., Die Originalität der Avantgarde
und andere Mythen der Moderne, hrsg. von Herta Wolf, Amsterdam, Dresden:
Verlag der Kunst, 2000, S. 51f.
2 Vgl.: Annette Südbeck, Eine andere Art zu zeichnen. Die Wandzeichnung bei Sol LeWitt, Hilka Nordhausen und David Tremlett, München: Silke Schreiber, 2011.